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Giza, das Alte Reich und Hildesheim

Wie alles begann
Die Altägypten-Sammlung des Roemer- und Pelizaeus-Museums geht auf die Schenkung des Mannes zurück, dessen Namen sie trägt: Wilhelm Pelizaeus (1851-1930), in Hildesheim geboren und aufgewachsen, ging als junger Mann 1869 nach Ägypten und entwickelte sich dort vom Kaufmann zum erfolgreichen Unternehmer und Bankier. Sein wachsendes Interesse an Land, Leuten und Geschichte seiner Wahlheimat veranlasste ihn seit etwa 1885, Zeugnisse der reichen Vergangenheit Ägyptens zu sammeln, wobei er seine vielfältigen Kontakte zu Archäologen, Ägyptologen und dem Museum in Kairo nutzte. Die archäologische Feldforschung lernte er Ende der 1890er Jahre kennen, als er Ludwig Borchardt (1867-1938) bei dessen Ausgrabungen für das Kaiserlich-deutsche Institut für ägyptische Altertumskunde in Kairo behilflich war: Er fungierte als Verwalter der Grabungsgelder und organisierte Materialien sowie die Feldbahn zum Abtransport des Schutts. Neben der Forschungsarbeit an sich war das Hauptziel damaliger Grabungstätigkeit, Fundstücke für die Institutionen, die die Arbeit finanzierten, zu gewinnen. Die Antikengesetze Ägyptens sahen eine Teilung der Funde vor: Der Service des antiquités de l‘Égypte (heute: Conseil suprême des antiquités de l‘Égypte) entschied, was in das Ägyptische Museum Kairo gelangte, alles übrige durften die an der Grabung Beteiligten unter sich aufteilen.

Pelizaeus wäre wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, Ausgrabungen zu finanzieren und in Hildesheim ein Ägypten-Museum einzurichten, wenn nicht die ägyptische Antikenverwaltung 1902 erstmals offizielle Grabungskonzessionen für den Pyramidenfriedhof von Giza vergeben hätte, die einer italienischen, einer amerikanischen und einer deutschen Expedition zugesprochen wurden. Georg Steindorff (1861-1951), Ordinarius für Ägyptologie an der Universität Leipzig, erhoffte sich von der Arbeit in Giza interessantes Material für die Leipziger Studiensammlung, die ihm für die Ausbildung seiner Studenten sehr am Herzen lag. Es gelang ihm jedoch nicht, eine solide Finanzierung des Unternehmens zu sichern, und so vertraute er seine Sorgen eines Tages Pelizaeus an, den er seit Jahren gut kannte, und fand in diesem spontan einen verlässlichen Geldgeber und Partner.

Erste Ausgrabungen in Giza
Pelizaeus faszinierte die Aussicht, Zeugnisse der Pyramidenzeit, der ersten großen Blütezeit der ägyptischen Kultur, für seine Privatsammlung zu gewinnen. In Giza auf dem westlichen Nilufer, auf einer bis an das Fruchtland reichenden Hochfläche der Wüste, hatten drei Könige der 4. Dynastie ihre Grabmonumente errichtet, dazu Tempelanlagen sowie Friedhöfe für ihre Angehörigen und ihre Beamten. Die Pyramiden des Cheops, des Chephren und des Mykerinos (um 2604-2539 v. Chr.) waren seit der Antike zu einem Symbol der Pharaonenzeit geworden; die noch 138 m hohe Cheops-Pyramide ist das einzige der sieben Weltwunder der Antike, das bis heute erhalten blieb. Parallel zum Bau seines eigenen Grabes ließ Cheops ein Gräberfeld für seine Familie im Osten seiner Pyramide und ein weiteres für seine höchsten Beamten im Westen anlegen. Die Leipziger Konzession umfasste den mittleren Abschnitt des Beamtenfriedhofs und versprach hochinteressante Aufschlüsse zu Architektur, Totenkult und Grabausstattung der Cheops-Zeit, aber auch darüber hinaus. Denn auch als die Könige der 5. Dynastie (um 2504-2347 v. Chr.) ihren Residenzfriedhof nach Abusir und Sakkara verlegten, blieb der königliche Totenkult für Cheops, Chephren und Mykerinos in Giza bestehen; es entstanden dort weiterhin Gräber von Beamten, nun vor allem der unteren und mittleren Laufbahn, aber auch von Leuten, die in der Pyramidenstadt als Handwerker und Totenpriester tätig waren.
Die Aussichten waren also gut, als sich Pelizaeus entschloss, Steindorffs Grabung zu unterstützen. Aus der ersten Fundteilung 1903 sandte er sogleich die beiden hölzernen Grabstatuen des Hetepi (Kat. Nr. 30) als Geschenk an das Roemer-Museum in Hildesheim, wo sie begeistert aufgenommen wurden. 1904 schrieb er an den Direktor: "Im Februar kommt Prof. Steindorff und werden wir 2 Monate bei den Pyramiden graben; hoffentlich mit großem Erfolg! Wollen Sie nicht auch einmal die Pyramiden Luft versuchen? Ich glaube es würde Ihnen gut thun!" Und der Erfolg stellte sich ein, schnell wuchs seine Sammlung und verwandelte sich in ein kleines Museum, das kaum noch in seiner Wohnung unterzubringen war (Abb. 4). Doch außer den Wissenschaftlern, Politikern und Wirtschaftsleuten, die zu seinem Bekannten- und Freundeskreis in Kairo gehörten, blieben diese Schätze der Öffentlichkeit zu Pelizaeus' Bedauern verborgen. Der Gesichtspunkt einer größeren Öffentlichkeit brachte ihn Ende 1906, nach drei Grabungskampagnen in Giza, auf die Idee, seine Sammlung als Schenkung nach Hildesheim zu geben. Damit schlug die Geburtsstunde des Ägyptischen Museums, das heute als Pelizaeus-Museum Teil des Hildesheimer Museums ist und dank seiner hervorragenden Grabungsfunde aus Giza zu den bedeutendsten Standorten der Pyramidenzeit, des Alten Reiches, außerhalb Ägyptens zählt.

Ein Ägypten-Museum für Hildesheim
Gedacht, getan: Pelizaeus' Schenkung wurde Ende 1907 vollzogen, vier Jahre später öffnete das Pelizaeus-Museum seine Tore für die Öffentlichkeit. Die reichen Funde aus Giza erhielten einen eigenen Saal, dessen Wände und Decke in ägyptischem Stil bemalt waren. Dort fanden die Besucher unter anderem schon die Statuen des Nefer-ihi, Tep-em-anch, Ra-maat und Sebeh-nef, Familiengruppen und Dienerfiguren vor, die alle aus den Grabungen Steindorffs in Giza von 1903 bis 1906 stammen. Zur Eröffnung am 29. Juli 1911 lud Pelizaeus zahlreiche Gelehrte ein, darunter Steindorff und Hermann Junker (1877-1962), die bei einem Glas Wein über ihre Grabungen plauderten – und als Ergebnis ihre Konzessionen tauschten! Junker hatte im Auftrag der Akademie der Wissenschaften Wien bis dahin vor allem in Nubien gearbeitet, dem von Ägypten eroberten und kolonisierten Gebiet südlich von Assuan, wünschte sich aber schon lange, an der archäologischen Erforschung des Alten Reiches teilnehmen zu können. Steindorff dagegen fand, er habe ausreichend Material der Pyramidenzeit für die Leipziger Sammlung erhalten, und wollte in Nubien gern neue Erfahrungen machen.

Die erste Giza-Kampagne unter Junker, 1912
Die Antikenverwaltung in Kairo, der Service des antiquités de l‘Égypte, war einverstanden mit dem Tausch der Grabungskonzessionen, nur Pelizaeus zu informieren hatte man irgendwie übersehen. In einem Brief vom 12. April 1912 an Otto Rubensohn (1867-1964), den ersten Direktor des Pelizaeus-Museums, schrieb er noch leicht verschnupft: "Wie ich nach meiner Rückkehr von Europa hier zufällig hörte, hatte Steindorff in Hildesheim die Pyramiden-Concession an Prof. Junker abgetreten (jetzt sagt er freilich, dieses sei noch nicht definitiv gewesen, obgleich es aus seinen späteren Briefen an Junker klar hervorgeht, und beansprucht er sein ferneres Anrecht auf die Concession, was ihm jedoch wohl nicht viel helfen wird!); ich verständigte mich in Folge dessen mit Prof. Junker, der mir in Wien die Hälfte an der Concession leicht erwirkte." Damit begann eine außerordentlich gute Zusammenarbeit, die viel zum Erfolg der Grabungen Junkers in Giza beitrug.
Im selben Brief berichtet Pelizaeus mit charakteristischer Begeisterung über die erste Grabungskampagne Junkers: "Die Grabung ist so eben für diesen Winter abgeschlossen und ergab als Resultat: sehr interessante Grab-Konstructionen, 1 Granitschreiber, 1 schöne große Scheinthür, einige Fragmente, 2 kleine Statuen (mit letzteren begnügte sich Maspero) (nach der Vertheilung fand Junker noch eine schöne kleine Doppelstatue, welche nach Wien geht) und schließlich einen wahren Schatz: die lebensgroße, sitzende Statue des “leiblichen Sohnes des Königs” (wahrscheinlich des Sohnes des Cheops), Minister der öffentl. Arbeiten etc. Es war ein eigener Anblick, die große Statue in dem aus feinsten, großen Kalksteinquadern gebauten großen Serdab durch das von römischen Räubern gemachte Loch sitzen zu sehen! Eine imposante Überraschung! Leider hatten die Räuber der Statue den Schädel eingeschlagen und die, wahrscheinlich aus kostbarem Material bestehenden, Augen ausgemeißelt; jedoch fanden sich alle Stückchen vor und kann man den ganzen Kopf, mit Ausnahme der Augen, zusammenfinden. Da diese Statue so kostbar ist, daß sie die sämmtlichen übrigen Funde weit überwiegt, so beschlossen wir (Maspero hat uns glücklicher Weise dieses Hauptstück überlassen!) darum (...) zu loosen, mit der Bestimmung, daß der glückliche Erringer des Schatzes 15,000 Kronen extra für die nächste gemeinschaftliche Grabung zalen muß. Das Loos war mir günstig und so kann sich Hildesheim gratuliren, da außer Cairo kein Museum etwas ähnliches hat! Die Statue stellt einen fetten Mann vor, so daß man erst glaubt, es sei die Statue einer Frau, & ist vom feinsten Kalkstein und sehr fein ausgeführt, namentlich die Nägel, die mit Farbe ausgelegten Hieroglyfen ect. Die an der Statue fehlenden Stücke befinden sich in den kleineren Kisten: die Hand, ein Stück des Sockels, ein Stückchen von der Schulter ect. in der einen und der Kopf in der anderen Kiste. Der Kopf muß, meiner und Junkers Ansicht nach, restaurirt werden, auch die Augen; letzteres wird Küsthardt möglich sein, da ein Stückchen eines Auges und die Linie der Form des Auges vorhanden sind. Beim Auspacken muß sehr vorsichtig vorgegangen werden, damit kein Stückchen verloren geht; auch die Bandagen, welche die Hieroglyfen des Sockels bedecken, müssen sehr vorsichtig entfernt werden."
So gelangte die inzwischen weltberühmte Statue des Hem-iunu nach Hildesheim, wo sie seitdem im Zentrum jeder Ausstellung mit Funden aus Giza steht.  Der Wesir Hem-iunu ist ein eindrucksvoller Repräsentant seiner Zeit: Mit dem Königshaus verwandt, oberster Beamter unter Cheops, als "Vorsteher aller Arbeiten des Königs" verantwortlich für den Bau der Großen Pyramide – Macht und Bedeutung spiegeln sich in seiner imposanten Grabanlage und seinem außergewöhnlichen Bildnis, das dort im März 1912 entdeckt wurde. Übrigens in Abwesenheit des Ausgräbers, der bei El-Hibeh in Mittelägypten eine Probegrabung für Pelizaeus durchführte. Maria Junker, Schwester und Grabungssekretärin Junkers, notierte im Grabungstagebuch:

"Dienstag, 19. März 1912
Gleich am Morgen wurde mit der Wegräumung des Sandes von der nördlichen Anlage der Mastaba begonnen und es zeigte sich bald in der Mauer des Serdabs eine kleinere Öffnung etwa 1/2 m im Durchmesser. Nachdem der Schutt daraus entfernt war, gewahrten wir zu unserer Freude, daß die Statue noch im Serdab vorhanden war. Sofort kroch einer der kleinen Jungen hinein, um allen Sand herauszuholen, und nach den Stücken zu suchen, die am Kopfe fehlten. Die meisten wurden auch gefunden, und die noch fehlenden hoffen wir noch bei der Entfernung der Statue zu finden. Einstweilen wird alles an Ort und Stelle gelassen, bis Hermann Junker zurückkommt, die Öffnung gut zugedeckt und der Wächter für die Nacht bestimmt. (...) Nachmittags kommt Herr Pelizaeus mit Besuch."
Pelizaeus' Brief, Maria Junkers Eintrag im Grabungstagebuch und Grabungsfotos vermitteln ein lebendiges Bild, wie damals in Giza gearbeitet wurde. Außer den Loren einer Feldbahn, die über ein eigens gelegtes Gleis geschoben wurden um Sand und Schutt abzutransportieren, benutzte man keine großen technischen Hilfsmittel. Am wichtigsten waren damals gut ausgebildete Grabungsarbeiter, die Junker – und vor ihm schon Steindorff – aus bestimmten Ortschaften in der Nähe Gizas rekrutierte. Frauen und Kinder übernahmen das mühsame Wegschaffen des Sandes, den der Wind immer wieder in die freigelegten Strukturen wehte, was das Vermessen und Zeichnen erschwerte. Junker gehörte wie George Andrew Reisner (1867-1942), sein amerikanischer Kollege in Giza, einer neuen Generation von Ausgräbern an, die den Wert systematischen Vorgehens und sorgfältigen Dokumentierens erkannt hatten. Beide nutzten daher auch die Möglichkeiten des Fotoapparats, dessen Handhabung viel Geschick und Geduld erforderte, waren die Geräte doch noch groß und sperrig, die Glasplatten empfindlich, die Luft immer voller Staub und Sand ... Besonders Reisner entwickelte sich zu einem Meister und Vorbild in Sachen Dokumentation, weshalb die bis heute andauernden Veröffentlichungen seiner Grabungsergebnisse auf seinen Tagebüchern, Zeichnungen, Notizen und Tausenden von Fotos beruhen. In Hildesheim werden die etwa 700 Grabungsfotos, die aus der Zeit Steindorffs und Junkers erhalten blieben, als großer Schatz gehütet und im Rahmen eines "Giza-Projekts" seit 2006 bearbeitet und für die Wissenschaft erschlossen.

Die Giza-Grabungen bis 1914
Drei Kampagnen konnte Junker bis Frühjahr 1914 durchführen, bevor der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Arbeit bis 1925 unterbrach. Deutsche und österreichisch-ungarische Staatsbürger mussten Ägypten, das seit 1882 unter britischer Verwaltung stand, verlassen oder wurden interniert. Auch Pelizaeus verlor seine zweite Heimat und gleichzeitig sein Vermögen, denn er wurde in Ägypten enteignet. Alle Objekte aus Giza, die ihm durch Fundteilungen bis Juni 1914 zugesprochen wurden, sandte er stets umgehend nach Hildesheim, begleitet von schriftlichen Ratschlägen, wie sie dort zu restaurieren und auszustellen seien. Sein Museum wuchs dadurch stetig, auch weil er es nicht lassen konnte, zusätzlich nach geeigneten, die Sammlung ergänzenden Objekten im ägyptischen Kunsthandel Ausschau zu halten. Zu den Hildesheimer "Neubürgern" der Jahre 1912 bis 1914 gehörten neben Hem-iunu auch Iunu und Ptah-schepses, Jabtet, Heti und Idu, die seitdem das Bild des Alten Reiches in Hildesheim prägen. Die Jahre bis 1925 nutzte Junker, um eine Veröffentlichung seiner Grabungsergebnisse vorzubereiten; in Hildesheim wurde fleißig inventarisiert und restauriert. Doch die Grabung war so plötzlich abgebrochen worden, dass die Erforschung des Beamtenfriedhofs noch viele Lücken aufwies; man hoffte auf bessere Zeiten.

Fortsetzung der Grabung: Giza von 1925 bis 1929
Junkers Wunsch ging 1925 endlich in Erfüllung, er durfte wieder nach Giza. Nicht unerheblich hatte dazu Pelizaeus beigetragen, dessen guter Ruf in Politik, Wirtschaft und Kulturverwaltung Ägyptens noch einiges Gewicht besaß. Auch seine karitative Tätigkeit war in guter Erinnerung geblieben. Die Grabungskonzession wurde erneuert, alte Zusagen von vor dem Krieg erfüllt. So konnte die Stadt Hildesheim mit finanzieller Hilfe durch Pelizaeus, der 1925 für die Enteignung in Ägypten teilweise entschädigt wurde, die Kultkammer des Uhemka erwerben wie bereits 1914 zugesagt. Junker führte daher 1925 zunächst eine Aufarbeitungskampagne in Giza durch, bei der die früher freigelegten Gräber und Strukturen von Sand befreit und neu eingemessen, viele Grabschächte nachträglich untersucht und neue Zeichnungen angefertigt wurden. Am Schluss der Kampagne beaufsichtigte Junker den Abbau und das Verpacken der 90 Reliefblöcke, aus denen die kleine Kultkammer im Grab des Uhemka bestand. Dieses war bereits 1903 von Steindorff ausgegraben worden. Die Hildesheimer konnten ab 1926 die maßstabgetreu im Museum wiedererrichtete Kultkammer besichtigen und sich einen ersten räumlichen Eindruck davon verschaffen, wie die Grabanlage eines Beamten in der frühen 5. Dynastie (um 2450 v. Chr.) in Giza aussah.
Im Frühjahr 1926, 1927 und 1928 sowie im Winter 1928 auf 1929 führte Junker vier reguläre Grabungskampagnen in Giza durch und absolvierte dabei ein ehrgeiziges Programm. Er schloss auf dem Westfriedhof die Untersuchung der Mastabas aus der Cheops-Zeit ab, die in seine Konzession fielen, setzte die Arbeit an den späteren Gräbern im Westen der Cheops-Pyramide flächendeckend fort und nahm neu den schmalen Gräberstreifen an der Südkante der Pyramide hinzu.  Obwohl die meisten Gräber – und das gilt für den ganzen Friedhof von Giza – schon in der Antike beraubt und geplündert, ihre Grabmassive aus Kalksteinblöcken oft als Steinbrüche oder als Materiallieferanten für das Kalkbrennen missbraucht wurden, waren die Grabungsergebnisse Steindorffs und Junkers bemerkenswert und ergänzten sich hervorragend mit den Forschungen Reisners. Erstmals wurde erkennbar, wie die Friedhöfe um die Cheops-Pyramide entstanden, welche Entwicklung Grabbau, Architekturformen, Totenkult und Grabausstattung von der 4. Dynastie bis zum Ende des Alten Reiches nahmen. Bedeutende Persönlichkeiten wie die großen Beamten der Cheops-Zeit traten durch ihre Bildnisse und durch Inschriften, die ihre Titel und Namen überliefern, nun als konkrete historische Individuen hervor. Die Giza-Grabungen haben entscheidend dazu beigetragen, unserem heutigen Wissen über die Vorstellungswelt der Pyramidenzeit ein sicheres Fundament zu geben.
In den 1920er Jahren galt nach wie vor das Prinzip der Fundteilungen, die unter Aufsicht der Antikenverwaltung durchgeführt wurden. Einmalige und wichtige Objekte standen dem Ägyptischen Museum Kairo zu, in die anderen Funde teilten sich die Akademie der Wissenschaften Wien, die Stadt Hildesheim und Pelizaeus, die diese Kampagnen finanziell ermöglichten. Auch die Universität Leipzig beteiligte sich an einer Kampagne, stellte zusätzlich ihren Restaurator als Fotografen zur Verfügung. So gelangten weitere reiche Funde nach Wien, Leipzig und Hildesheim. Im Pelizaeus-Museum konnte man 1926 unter vielen anderen die Prinzessin Wenschet begrüßen, auch weitere hervorragende Statuen stammen aus dieser Grabungssaison. Stellvertretend für viele Neuzugänge aus der Kampagne 1927 seien hier die Scheintür des Anch, die Sitzfigur der Nebet-pedjet und die interessanten Fragmente aus dem Grab des Zwergen Seneb genannt, dessen bekannte Familiengruppe zu den Highlights des Ägyptischen Museums Kairo gehört: Junker fand sie unbeschädigt in einem gut versteckten Serdab des Grabes, dort, wo sie rund 4000 Jahre früher als ewiges Bildnis zum Empfang des Totenkults platziert worden war.
Für die beiden letzten Grabungskampagnen gab es 1929 eine abschließende Fundteilung, deren größter Teil nach Hildesheim gelangte, das die beiden Kampagnen hauptsächlich finanziert hatte. So kam das Pelizaeus-Museum in den Besitz von gleich drei monumentalen, 3,5 bis 4,5 Tonnen schweren Sarkophagen aus rotem Granit und erhielt zahlreiche Reliefs, Kanopen, Scheinbeigaben, Opfertafeln und Keramik, die zur Ausstattung der Gräber im Alten Reich gehörten.

Giza gestern, heute und morgen
Doch damit nicht genug: Auch in den Epochen nach dem Alten Reich wurde der Friedhof von der einheimischen Bevölkerung als Bestattungsplatz genutzt. Bis in die Zeit der ptolemäischen und römischen Herrschaft über Ägypten (332 v. Chr. - 395 n. Chr.) bestattete man seine Toten in den verfallenen Gräbern der Pyramidenzeit. Hölzerne Särge in Mumienform, Uschebti-Figuren, Amulette, einfacher Fayence-Schmuck, Gefäße aus Stein und Keramik zeugen von dieser späten Belegung der Nekropole. Viele dieser Funde kamen durch die letzte Teilung nach Hildesheim, wo sie heute noch darauf warten, erforscht zu werden. Dies wird in naher Zukunft als Teil des "Giza-Projekts" geschehen.
Junker veröffentlichte seine Grabungsergebnisse in der für ihn typischen systematischen und gründlichen Art in 12 Bänden, deren erster zur großen Freude seines Förderers Wilhelm Pelizaeus 1929 erschien. 1955 schloss Junker sein monumentales Werk ab. Diese Leistung darf noch immer als vorbildlich gelten, auch wenn Junker sich fast ausschließlich auf das Alte Reich, die Grabarchitektur, die Statuen und Reliefs sowie ihre Interpretation beschränkte. Wie so viele Ausgräber des frühen 20. Jahrhunderts interessierte er sich noch nicht übermäßig für den "Kleinkram", die Keramik zumal und die zahllosen Funde der späteren Epochen. Doch seine 12 Bände bilden auch heute noch eine der Grundlagen der Forschung für jeden, der sich mit dem Alten Reich beschäftigt. Denn Steindorff fand neben seiner Tätigkeit an der Universität und der Veröffentlichung seiner Nubien-Grabung nicht die Zeit, auch seine Arbeit in Giza geschlossen zu publizieren, und auch Reisners Manuskripte sind zum Teil bis heute nur im Archiv zugänglich.
Schon seit einigen Jahren gibt es ein inzwischen international operierendes "Giza-Projekt", das sich zum Ziel gesetzt hat, alle unveröffentlichten Unterlagen, Archivalien, Grabungstagebücher, Fotos, Zeichnungen und Funde der Wissenschaft zugänglich zu machen. Ausgehend vom Museum of Fine Arts Boston, wo die umfangreichen Grabungsdokumentationen George Andrew Reisners verwahrt werden, wurde ein Modell entwickelt und erfolgreich umgesetzt, diese Unterlagen digital zu erfassen und im Internet für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Das Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim und das Ägyptische Museum der Universität Leipzig haben sich inzwischen diesem Projekt angeschlossen; in Hildesheim werden seit 2006 Steindorffs Grabungstagebücher ausgewertet, Grabungsfotos digitalisiert und bestimmt, längst auseinander gerissene Grabinventare rekonstruiert und virtuell wieder vereinigt, Inschriften übersetzt und die Gräber sowie ihre einstigen Herren so zu neuem Leben erweckt. Das Kunsthistorische Museum Wien arbeitet ebenfalls am "Giza-Projekt" mit. Die Zukunftsvision beinhaltet eine gemeinsame Veröffentlichung aller Ergebnisse und Unterlagen auf der Website "Giza Archives Project" des Museum of Fine Arts Boston (www.gizapyramids.org).

Weiterführende Literatur

Peter Jánosi, Österreich vor den Pyramiden. Die Grabungen Hermann Junkers im Auftrag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien bei der Großen Pyramide in Giza, Wien 1997

Peter Jánosi, Die Gräberwelt der Pyramidenzeit, Mainz 2006

Bettina Schmitz, Ägypten in Hildesheim. Aus der Geschichte des Pelizaeus-Museums, in: Eggebrecht 1993, 8-49

Bettina Schmitz, "... ein wirklicher Fürst, klug, mit starkem Willen und voll Würde ...". Die Geschichte eines ägyptischen Prinzen: Hem-iunu in Giza und Hildesheim. Hildesheimer Studien zu Ägyptologie und Archäologie 1, Hildesheim 2008

Antje Spiekermann und Friederike Kampp-Seyfried, Giza. Ausgrabungen im Friedhof der Cheopspyramide von Georg Steindorff. Kleine Schriften des Ägyptischen Museums der Universität Leipzig 6, Leipzig 2003

Die Zitate dieses Textes stammen aus Archivalien in Hildesheim (Stadtarchiv Hildesheim) und Wien (Universität Wien, Institut für Ägyptologie), vgl. dazu Schmitz 2008.

© Dr. Bettina Schmitz, Hildesheim / 11. Dezember 2008